22 снежня 2020

Aus Okrestina ins Berghain: "ich schreibe – also existiere ich"

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Der Schreibprozess ist für mich sehr therapeutisch. Ich möchte meine Gefängniserfahrung rausschreiben. Sie fixieren, sie loswerden – und weiter gehen.
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Meine Geschichte ist gleichzeitig einzigartig und alltäglich. Alltäglich, weil wir viele sind. Wir sind durchschnittliche Managerinnen, Studentinnen, Übersetzerinnen, NGO-Mitarbeiterinnen, Putzpersonen, Pharmazeutinnen, Journalistinnen, Menschen, die zuhause arbeiten. Und irgendwann gelangen wir hinter Gitter – für einige Stunden, Tage oder Jahre. Einfach weil die Regierung uns bestraft. Weil wir zu Protestdemos gegangen sind, Artikel geschrieben haben, Menschen in unseren Häusern versteckten haben oder das Pech hatten eine Pizza holen zu gehen. Im Gefängnis erleben wir Gewalt – körperliche und psychologische, und ihre Konsequenzen verfolgen uns noch lange. Wir sind verletzlich und lebendig.

Andererseits ist meine Geschichte einzigartig. Denn es ist nur meine Erfahrung, meine und niemanden anderer. Man kann sie mir nicht wegnehmen, aber ich kann sie teilen.

TW — Polizeigewalt, Unterdrückung, Gefängnis.

Dieses Tagebuch beschreibt nicht alle meine Missglücke. Zum Beispiel gibt es hier keine Erzählung darüber, wie in RUVD (Anm.d.Ü.1, Bezirksverwaltung für innere Angelegenheiten) ein Unbekannter in Zivilkleidung ein Messer rausgeholt hat und sagte: "Hast du keine Angst dich mit dem Rücken zu mir zu drehen?" Oder darüber, wie ich mit einer Zahnbürste den "Smoothie" im Klo umgerührt habe, als es verstopft war. Oder über die Mitinsassin X, die sagte, dass ich kein Recht hätte in der Zelle Vorlesungen über Geschlechtervielfalt und Gewaltfreie Kommunikation zu halten, weil ich keine entsprechende Hochschulbildung hätte. Über das "Stockholmer Syndrom" wird es hier nicht gehen. Auch nicht darüber, wie ein Bulle einst zu uns in die Zelle rein gegangen ist und sich auf mein Bett gesetzt hat. Es geht nicht um meine wunderbare Mitinsassinnen. Nicht über unsere gegenseitige Unterstützung, Solidarität, Akzeptanz. Nicht über den Alltag. Aber ich sehe das auch nicht als Ziel alles zu erzählen.

** Dieser Text wird mit einer Reihe von Zeichnungen von Nadya Sayapina «DOLLHOUSE» illustriert.

1. Anmerkung der Übersetzer*innen




Berghain ist ein Electro Club in Berlin. Ein Mekka für Feiernde. Berghain verspricht Spaß, Abenteuer, Extremes. Vor dem Berghain stehen Menschen Schlangen und machen sich Sorgen, ob sie reingelassen werden oder nicht. Niemand weiß, warum manche Menschen ins Berghain reingelassen werden und andere nicht. Wenn du reingelassen wurdest, freu dich, und wenn nicht, pfeife drauf. Das ist eine Lotterie. Man braucht nicht eine Logik dahinter zu suchen. Es ist sogar sinnlos eine Logik zu suchen, es wird nur Energie fressen. Es liegt nicht an dir. Nicht an deinem Style, Alter, Clique, Geld, Selbstsbewusstsein, ob du Geheimtaschen in deiner Tasche hast. Es hat fast gar nichts mit dir zu tun. Das ist Berghain, baby.

"Prinzip von Berghain" - so habe ich mir und anderen die Logik der Geschehnisse erklärt, als ich für einen Tag für die Teilnahme an friedlichen Protestaktionen festgenommen wurde. Gibt es einen Unterschied mit einer Regenbogenflagge festgenommen zu werden oder ohne? Und wenn ich mich nicht schuldig bekenne und meine Fingerabdrücke nicht gebe, werden sie mir eine lange Gefängnisstrafe geben? Warum wurde eine junge Mutter freigelassen und eine andere nicht? Warum schlafen wir heute mit Licht und morgen ohne? Wofür werden wir "bestraft"? Wie werden wir in den Zellen verteilt? Man kann versuchen alles zu erklären, aber nach zwei Versuchen wird das Schema zerfallen, weil sich andere Beispiele finden, die das komplette Gegenteil sind.

Das Prinzip von "Berghain" ist das, was man nicht verstehen, nicht erklären kann, das, was keine Logik hat. Das Prinzip von "Berghain" ist ein Zufall. Du musst die Ursache nicht in dir suchen. Akzeptiere alles, wie es ist. Heute hast du Glück und morgen nicht. Heute wurde ich für einen Tag verhaftet und morgen meine Freundin.


***

Ich schlage vor diesen Text nicht wie einen fiktionalen, sondern wie einen dokumentarischen zu lesen. Es ist ein Tagebuch, das ich geführt habe, als ich im Gefängnis saß. Es ist "ungekämmt", hier gibt es viele Wiederholungen, etwas aus dem Kontext könnte unverständlich sein. Sein Zweck war, mir beim Überleben zu helfen.

Es ist all denen gewidmet, die politischen Unterdrückungen in Belarus ausgesetzt sind.


Aus Okrestina ins Berghain: "ich schreibe – also existiere ich"© Nadya Sayapina. Pen tattoos, 19.09.2020


***

Tag zwei


Heute gab es meinen Gerichtsprozess und ich wurde zu 15 Tagen verurteilt. Es scheint, es ist höchste Zeit um mit dem Schreiben anzufangen. Gut, dass ich nicht Viktor Frankl bin und auf Papier schreiben darf und nicht nur in meinem Kopf.

Jetzt sitze ich in einer Zelle auf Okrestina. Alle Frauen wurden weggebracht. Anscheinend, zum Gericht. Ein paar Minuten war ich alleine, und dann wurde zu mir L.L. gebracht, ich vermute, dass sie obdachlos ist. Sie riecht stark und ihr Gesicht ist etwas lädiert. Sie leidet auch an Schmerzen in den Beinen, das habe ich aus dem Flur gehört, als der Bulle wollte, dass sie schneller geht. L. flüstert "Und wird Lukaschenko noch bleiben? Ich wünschte nein. Es passiert solche Willkür". Und hier bin ich mit ihr komplett einverstanden.

L. kennt sich etwas mit der heutigen politischen Situation aus. Sagt, dass nach der Wahl "viele Menschen geschnappt wurden", dass es "sogar neun Avtozak" (Anm.d.Ü., Milizauto für Verhaftete) gab (mehr, L., mehr), und "dass einer sogar getötet wurde" (mehr, L., mehr).

L. konnte sich lange nicht dazu entschließen sich auf ein Bett aus nackten Holzbrettern zu legen, aber hat sich doch hingelegt. Denn die Beine tun weh.

Ich würde liebend gern Wasser trinken, aber es gibt kein Wasser. Das in Flaschen ist zu Ende und das im Wasserhahn wurde abgeschaltet. Wahrscheinlich könnte man den Bullen hinter der Tür fragen, aber 1) ich habe so keine Lust ihn nach etwas zu fragen 2) er wird höchstwahrscheinlich Nein sagen.

L. ist anscheinend eingeschlafen. Sie sollte schlafen.

Ich habe gedacht, dass wenn diesen Sommer alles mit Coronavirus ist und man nicht wirklich in eine Reise aufbrechen kann, das ist sie – meine Reise. Durch die Zellen und Gefängnisse von Belarus.

***

Tag drei


Nur wenn ich das alles als ein anthropologisches Experiment wahrnehme, habe ich Kraft, dieses Schrecken zu überleben. Viktor Frankl, Viktor Frankl...

Gestern hatten alle Gerichtsverfahren. Die Frauen haben von 7 bis 15 Tage bekommen, sogar die, die ganz klein sind, die ich anschaue und mir große Sorgen um sie mache. Sie sind so fragil, naiv, harmlos.

M. wurde heftig gequellt. Sie kooperiert mit Belsat (Anm. d. Übs., Belsat ist ein in Polen ansässiger Fernsehsender für Zuschauer in Belarus) und ist bei ihnen "unter besonderer Beobachtung". Sie hat eine Strafe bekommen und wurde im Flur warten gelassen. Sie saß dort und dann kam ihr Bezirkspolizist und brachte ihr ein neues Protokoll, dieses Mal schon für Widerstand bei der Festnahme. Und sie wurde zu uns in die Zelle zurückgebracht. Wir sind hier sieben Personen auf fünf Betten.

Morgens, direkt vor der Gerichtsverhandlung, haben sie die Matratzen weggenommen. Wir haben gedacht, das ist, weil sie uns bald woanders unterbringen werden (z.B. in Zhodino), aber nun kam allmählich die Mittagszeit, auch der Abend war vorbei, und wir werden immer noch nicht rausgelassen (Anm. Hier meinte ich natürlich, dass wir nicht transferiert werden). Wir haben geklopft und auf die Taste gedrückt und als Antwort bekamen wir: "Ihr seid bestraft, es wird keine Matratzen geben, ihr bleibt zu siebt".

Wie? Warum? Nachdem die Tür zugegangen ist, haben wir angefangen zu besprechen, was denn passiert. Wir wurden zu siebt auf fünf Betten mit nackten Holzbrettern verteilt. Okay, wir hatten Wasser (das für einige Zeit abgeschaltet wurde), in der Zelle war es nicht zu kalt, wenn wir es positiv betrachten wollen. Was bleibt einem hier sonst noch übrig.

Eine Frau – T., Juristin, die dazu fähig war, etwas Schönes, Positives sogar in dem größten Stück Scheiße zu erblicken (sie würde sagen, "dafür hat es zumindest eine Herzchenform"), sogar sie hat gestern angefangen zu weinen, und sagte, dass trotz all ihrer Menschenliebe – da ist er, der erste Augenblick, in dem sie anfing Hass zu verspüren.

*** sie bringen M. zu einer neuen Gerichtsverhandlung weg.

***

Tag vier

Gestern wurden wir irgendwo anders hingebracht. Anscheinend, nach Zhodino. Freudig war allein der Moment einer Bewegung von mir im Raum, es war nicht wichtig wohin. In der kleinen Zelle auf Okrestina habe ich angefangen etwas durchzudrehen. Es stellt sich heraus, dass L. aus einer Zelle in eine andere bewegt wurde. Bei jemandem wurde sie über Nacht gelassen. Uns wurden die Matratzen für die Nacht zurückgegeben, aber den anderen Frauen nicht. So haben sie zu dritt in einer Zelle für zwei Personen ohne Matratzen auf nackten Brettern mit der Mitbewohnerin L. geschlafen.

Wie sah unsere Zelle aus. Schmutziges Klo, umgeben von einer kleinen Wand (Anm. keine Kloschüssel, natürlich, aber ein Loch im Boden, über das man hocken musste). Waschbecken, auch schmutzig, mit heißem und kaltem Wasser. Am Boden befestigt ein enger Tisch und Bänke. Ein Fenster, durch das das Licht durchsickert. Zwei zweistöckige und ein einstöckiges Bett.

M., die Journalistin aus Belsat mit einem 1,5-jährigem Kind, wurde nach drei Nächten freigelassen (anscheinend). Noch eine Frau-Aktivistin hat 15 Tage und eine Geldstrafe bekommen.

Die Frauen und ich unterstützen einander sehr, indem wir einander daran erinnern, dass das, was passiert unnormal ist. Das es Qualen, Gewalt, Erpressung, Folter sind.

MENU

SO

Morgen - Tee, Haferbrei
Mittag - Fischbrühe, Fischboulette, Perlengraupen, Kompott
Abendessen - Wurst und Reis

MO

Morgen - Tee, Haferbrei
Mittag - Schschi, Fischboulette, Hirsebrei, Pudding
Abendessen - Schweineboulette, Buchweizen

DIE

Morgen - Tee, Buchweizen
Mittag - Schschi, Schweineboulette, Haferbrei, Pudding
Abendessen -

(Anm. So wurden wir auf Okrestina ernährt. Es steht "Fischboulette" oder "Schweineboulette", aber ich kann nicht wiedergeben, was für eine Boulette es war. Sehr scheußliche Boulette. Eine Masse in der Form einer Boulette).

Abends wurden vier von uns rausgebracht, mit noch drei Frauen zusammengetan und für eine oder zwei Stunden im Innenhof von Okrestina gelassen. So habe ich erfahren, dass wir in IVS, in der temporären Haftanstalt, waren. Nebenan waren die Jungs, sie wurden bei dem Sonntagsmarsch verhaftet. Sehen angenehm aus, ich habe sie zu "den eigenen" gezählt. Wir sprachen etwas mit einem von denen. Der Marsch war groß, niemand wurde verhaftet bis es dunkel wurde und alle in ihre Bezirke auseinandergegangen sind. Mein neuer Bekannter wurde in Urutschje verhaftet. Bei der Festnahme wurde er geschlagen, danach nicht.

Nach dem Hofaufenthalt wurden wir in ein Milizauto getan und weggefahren. Auf die Frage "Wohin?" wurde gesagt "Nicht nach Hause". "Wie lange fahren wir?" – "Ungefähr eine Stunde".

Wir haben uns gefreut, ich habe sogar ein kleines Lied der Freude gesungen! Vier Personen in der kleinen Kabine.

"Soll ich die Klimaanlage anmachen?" – "Ja, hier ist es verraucht" – "Aber euch kann kalt werden". (nach einer Pause) "Was, Scheißhuren, wer kriegt hier keine Luft? Okay, war ein Witz. Es wird laut sein". – "Ja, aber wir werden lauter reden" – "Und ich werde eure Gespräche belauschen".

Zwei von uns sind "grün" gefahren. Haben eine Tüte bereitgehalten, falls jemand kotzen will. Haben in den Spalt geschaut. Der Typ hat am Handy gespielt.

Angekommen. Haben im Spalt Schäferhunde gesehen. Haben sich an die Geschichte erinnert, dass es auch ein Element des psychologischen Drucks ist, diese Hunde. Dass sie auf einer superkurzen Leine gehalten werden, und sie bellen aggressiv an den Straßenrändern, während du gehst.

Sind rausgegangen mit den Tüten (Anm. dort sind die Sachen aus den Sendungen/Paketen). Standen neben einer Wand, dann neben einer anderen. Die Namen wurden überprüft. Als Antwort auf meinen Namen hat der Typ gesagt "O, Biran, ohne Scheiß, 15 Tage". Das kommt also selten vor. Wenn ich das alles überlebe, werde ich eine Heldin sein, die den "Fünfzehner" abgesessen hat.

Sind durch einen langen langen Keller gegangen. Dunkel, kalt, irgendwie unendlich. "Sich an der linken Seite halten! Sich an der rechten Seite halten! Hände hinter den Rücken! Nichts vom Boden aufheben!" Die Jungs wurden dabei noch mit Stöcken angetrieben.

Unterwegs sah ich eine Tüte mit Keksen, die bei jemandem runtergefallen ist. Reflexartig beugte ich mich, und dann erinnerte mich an diese Wörter (Anm. Darüber, dass nichts vom Boden aufgehoben werden darf") – und habe sie nicht aufgehoben. Vielleicht ist es irgendein spezieller Trick, und wenn ich sie aufhebe, schlagen sie mich. Dann sagen sie: "Die Hunde wurden freigelassen". Das sollte eine Art Witz sein. Und wir rennen noch schneller. Denn das Hirn kann sich nicht orientieren und verstehen, dass es keine Hunde hier gibt, und dass es ein "lustiger Witz" sein soll.

T, die hinter mir ging, hat sie aufgehoben. Hat sie gut gemacht. Ich habe es auch gut gemacht, aber in diesem Moment habe ich mich für etwas anderes entschieden. Es hat sich herausgestellt, dass bei einem Jungen die Tüte zerrissen und alles daraus gefallen ist. Es ist nicht erstaunlich: schnell laufen, die Stöcke, die Schreie usw.

Auf den Wänden im Flur sind irgendwelche Muster, wow! Die Wände sind nicht kahl! Wie sehr hat es mich unterstützt, Scheissmuster, irgendwelche einfachen Farbenflecke, aber wie haben sich mich an eine mögliche Gemütlichkeit erinnert!

Sie haben uns in eine Linie gestellt. "Hände hoch! Höher! Nicht am Gitter hängen! Mit den Handinnenflächen nach außen!" Viel Information. Mit den Handinnenflächen nach außen - wie geht das überhaupt? Nicht verständlich. Ich habe mit seitlichem Blick geschaut, um zu verstehen. Sie haben mit den Händen unsere Köpfe gebeugt: "Niedriger den Kopf! Niedriger! Was ist nicht klar?" Die Jungs wurden auch noch mit den Stöcken auf die Beine geschlagen – "Die Beine breiter!"

Zuerst brachten sie uns in die eine Zelle. "Das sind doch sechs, wohin zum Teufel hast du sie gebracht! Und warum haben sie Rücksäcke dabei?" Hier sind mir ein weiteres Mal die Zeilen aus Kolesnikovas Brief in den Sinn gekommen, dass bei ihnen überall Chaos und Willkür herrschen. Wirklich Chaos! :)

Während der "Chef" dort noch jemanden angemeldet hat, irgendwo hingegangen ist, haben die anderen Bullen ein paar nette Wörter gesagt. Also, haben die Uhrzeit gesagt, versprochen einen Filzstift zu geben, nach dem ich gefragt habe, usw. (Anm. In Okrestina waren Kugelschreiber verboten. Der, mit dem ich geschrieben habe, war der einzige in der ganzen Zelle, und kam zu uns höchstwahrscheinlich "aus Versehen". Ich wusste nicht, welche Regeln es in Zhodino gab, und deswegen bat ich um die Möglichkeit, einen Filzstift aus meinem Rucksack rauszunehmen, als ob ein Filzstift erlaubt wäre und ein Kuli nicht. Eine zweifelhafte Logik, aber mir vorzustellen, dass ich die restlichen Tage ohne die Möglichkeit meine Gedanken aufzuschreiben sitzen werde, war furchtbar).

© Nadya Sayapina. Smoking area and more, 15.09.2020


Wir sind in die Zelle reingegangen. "Mit dem Gesicht zur Wand! Die Hände hinter den Rücken! Ich nenne den Namen, und ihr den Vornamen, Vatersnamen und Geburtsdatum".
Auf 2001 und 2002 hat er mit den Wörtern "Scheiße und "Verdammte Scheiße" reagiert.

"Na, wie gehts?" (Belarussisch) – "Nicht so gut". Hier bin ich schon "mutig geworden", weil ich traurig wurde wegen diesen Scheißkeksen, die ich aus Angst nicht aufgehoben habe. Und hier ist schließlich unklar, was besser ist, zu antworten oder zu schweigen. Auf der einen Seite bin ich und mein Stolz, auf der anderen die Angst vor Aggression, Gewalt.

"Sie sagen "ausgezeichnet" – "Ausgezeichnet!"

Danach hat sich herausgestellt, dass der Typ sich nicht lustig macht mit seinem Akzent, dass er wirklich so spricht. Und dann hat er seine feierliche Rede gehalten:

"Alle Aktionen werden auf Befehl der Mitarbeiter ausgeführt. Jegliche anderen Taten können als eine Drohung wahrgenommen werden, deshalb kann gesetzliche physische Gewalt mit Anwendung von Spezialmittel gegen euch angewandt werden. Zwischen sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends in Betten zu liegen ist verboten. Aufstehen um sechs Uhr morgens."

Am Ende hat er nochmal gefragt "Wie geht's", und ist gegangen.

Noch ein Paar mal sind sie gekommen. "Wer schläft nicht? Wollt ihr im Flur stehen?" Ich bin mit Ohrstöpsel eingeschlafen, aber habe trotzdem gehört, wie sie neue Menschen gebracht haben: Schreie, Stöcke. Ich hatte keine Kraft für Empathie. Ich habe mich darauf konzentriert, einzuschlafen. Ich bin von der Kälte aufgewacht, habe über die Leggins eine Hose gezogen. Nun habe ich verstanden, wozu ich warme Klamotten brauche.

Ich fange an mit einer kleineren Schrift zu schreiben, um die Tinte zu sparen. Diesen Kuli habe ich zufällig aus Okrestina mitgenommen. Ich wollte ihn nicht mitnehmen! Ich habe ihn in meiner Kosmetiktasche entdeckt. Wahrscheinlich hasst mich die Frau jetzt, der dieser Kuli gehört hat. Aber es ist wirklich zufällig passiert! Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Das ist ein illegaler Stift (anscheinend sind sie hier verboten), der mir das Leben retten kann. (Anm. Das ist wieder darüber, wie wichtig es für mich war zu schreiben. Ich habe diesen Stift unbewusst mitgenommen, und als ich ihn entdeckt habe, habe ich gleichzeitig Freude und Scham verspürt.)

Der Ausdruck "Schütt mir keinen Zucker in die Scheiße" ist meine Antwort auf die positiven Aussagen von T.

Heute Morgen ging das Radio mit der Hymne an (um 6 Uhr morgens), und ich hatte Ohrstöpsel und bin nicht aufgewacht. Hierfür braucht man diese schrecklichen staatlichen Radiosender also – für das Gefängnis! Und dann habe ich noch geträumt, dass ich aus Zhodino ausgebrochen bin, um zu schauen, wie es auf den Märschen am Samstag und Sonntag war, und dort eine queere Gruppe gesehen, mich gefreut habe, und danach auf Umwegen zurückgekommen bin um die restliche Strafe abzusitzen. :) Außerdem habe ich geträumt, dass ich in Pinsk bin, nach Hause gehe, auf der Bushaltestelle werden Menschen geschnappt, die Schlange für Marschrutka (Anm. d. Ü., Bus) stehen, die Schlange kommt mir näher, und ich entscheide mich, zu Fuß zu gehen.

Heute habe ich gemerkt, dass ich mich bei diesen Menschen nicht bedanken will, obwohl es in jeder anderen Situation typisch für mich wäre: "Danke" zu sagen, wenn Essen gebracht wird, wenn das Geschirr abgeholt wird usw. Und hier halte ich mich zurück. Ich will ihnen nicht "Danke" sagen. Mir ist aufgefallen, dass einige Frauen das auch tun. Ich habe sie gefragt, warum. Sie sagten, es sei so eine kleine Kampfgeste, ein Mini-Widerstand. (Anm. nach einiger Zeit fand ich heraus, dass Essen und Geschirr von einheimischen Gefangenen gebracht und abgeholt werden. Daraufhin tadelte ich mich weniger für das gelegentliche "Danke")



***
Tag fünf

Ich habe den Frauen gestern Abend bei der Emo-runde (gegenseitige Selbsthilfegruppe) gesagt (sowas machen wir, ja), dass der gestrige Tag der glücklichste der fünf war. Meine 18-jährige Zellengenossin schrieb in einem Brief: "So seltsam es auch klingen mag, im Gefängnis ist es viel besser".

Ein Drittel meiner Haftzeit ist vorbei.

Wir verständigen uns mit den Nachbarn und klopfen an die Heizung: le-be Be-la-rus und Wir gla-u-ben, kö-nnen, wer-den sie-gen. Eigentlich schreie ich sowas nicht bei Kundgebungen, aber hier mache ich es :)

Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich auf die verdammte Tür schaue. Sie ist die Quelle der Gefahr. Sie ist aber auch die Quelle der Hoffnung und freudiger Ereignisse, wie wenn ein Brief oder ein Paket ankommt. Sie ist auch ein Ort der Konfrontation, das Verteidigen der eigenen Grenzen.

Gestern wurde die jüngste, subtilste von uns mitgenommen, um ein Päckchen zu holen.
- Brauche ich eine Maske? - sagt sie.
- Du brauchst Gleitmittel! - sagt der Bulle. (Anm. d.Ü., Die Worte Maske und Gleitmittel reimen sich im Russischen)

Verfickte scheiße, was für eine Schande!

Die Wächter, die jetzt Schicht haben, sind so kommunikationsfreudig. Nach dem Motto sie sind die „netten“. Wir nehmen an, dass es ihnen für ihren Job selbst peinlich ist, deshalb bieten sie zusätzlich Tee und eine Zigarette an, und sagen sogar "ihr braucht nicht aufstehen", um sich selbst zu rechtfertigen.

Unsere Zelle wurde gefilzt. Das heißt, wir wurden alle herausgeholt, und währenddessen wühlte ein Mensch in unseren Sachen rum, warf sie auf den Boden, drehte die Taschen aus. So haben sie mir meine Notizen weggenommen. (Anm. eigentlich nur ein kleines Blatt. Den Rest habe ich vorsichtshalber versteckt. Aber seitdem habe ich sehr klar festgelegt, was von meinen Notizen ich offen liegen lassen kann und was ich an einem geheimen Ort verstecken werde). Die Frage ist, wofür ist die Razzia gut? Schließlich wurden alle unsere Sachen sowohl auf Okrestina als auch in Zhodino bereits gründlich durchsucht. Wir können nichts "Verbotenes" hierherbringen. Auch alle Pakete werden gründlich abgesucht. Stift und Papier sind nicht verboten. Sind auf Papier festgehaltene Gedanken also verboten? Überwachung und Bestrafung. Wie ist sie, die Strafe für Gedanken? Sie fragen auch: "Gibt es irgendwelche verbotenen Gegenstände in der Zelle? Waffen, Drogen?" (Anm. Fuck ja, zwei AKs und Pep für zwei Lines).


© Nadya Sayapina. Massage, 21.09.2020


Heute ist das Glas in der Tür zerbrochen. Um 6:00 Uhr morgens wurde mit einem Schlagstock eingeschlagen, die Glasscheibe hielt es nicht aus. So wird geweckt.

Oft schlafe ich mit irgendeinem beunruhigenden Gedanken ein. Umstände, die das begünstigen, gibt es viele. Die Träume sind auch belastend, oft mit irgendeinem sexuellen, aber nicht besonders angenehmen Kontext, wo ich überflüssig bin.

Nach Freilassung erledigen: Zahnärztin, Tatoomaster, Maniküre und Pediküre.

Und das war's dann auch schon, ich halte mich zurück, weil sie alles wegnehmen, lesen. Schon gut, die Gedanken werden sie mir nicht wegnehmen. Meine Gedanken sind immer bei mir. Meine Gedanken galoppieren.

Was wollen wir jeden Tag machen?
- Sport
- kleine Wäsche
- uns Waschen
- Schreibpraktiken
- Lesepraktiken
- Analytische Praktiken und eine Emo-Runde
- tägliche Praktiken (verschiedenen Ausmaßes) von resistance (Widerstand)

Ich habe von Jeanne geträumt (Anm. meine Großmutter, die vor weniger als einem Jahr verstorben ist). Sie war betrunken. Am Steuer eines Jeeps mit offenem Dach. Mit verrückten Augen und durchgewühltem Haar. Sie wollte sterben. Sie ist in einen LKW reingefahren.

Ich habe bei dem Spaziergang getanzt, juhu! Die Übung "Kamel" sieht so aus: ich bin über fremdes Essen gesprungen :)

Habe eine Kakerlake gesehen :(

Durch die Form des Kissens kann man nur gerade darauf liegen. Ein disziplinierendes Kopfkissen.

Ich habe geträumt, dass ich wieder im Freien Theater arbeite und mich nicht an die letzte Zeile erinnern kann und angeschrien werde. Ich wache auf und bin im Knast. Was für ein Glück! :)

Wenn eine Person herauskommt, wird gefegt und der Müll vor die Tür gekehrt. Damit die Person nicht wiederkommt.




(Selbst-)Zensur

Ich habe lange nichts mehr geschrieben, oder habe etwas "Gefälschtes" geschrieben. Mit ihrer Razzia haben sie mich entmutigt. Ein Gefühl der Machtlosigkeit hat sich breitgemacht, was sie definitiv auch wollten: dass ich mich selbst zensiere, damit sie es nicht tun müssen. In welchen Bereichen kann sich (Selbst-)Zensur manifestieren:

● Briefe. Was ich schreibe (und was eventuell mir geschrieben wird) wird sorgfältig gelesen, geprüft.

● Unterhaltungen. Sie können jederzeit durch das Guckloch spähen und Gespräche belauschen. In der Zelle, in der ich jetzt bin, ist eine Kamera installiert, die u.a. wohl auch Ton aufnimmt.

● Gedanken. Es ist für mich sehr wichtig, meine Gedanken während ernsthafter existenzieller Erfahrungen aufzuschreiben, sie in Kisten zu ordnen, zu organisieren. Nachdem mir ein Teil meiner Notizen weggenommen wurde, wurde es für mich schwierig das zu tun. Der Gedanke kommt auf, wozu der ganze Aufwand? Oh je, ich werde mir die Mühe aber machen!




Rechtfertigung der Bullen

In allen Zellen tauchen unweigerlich Fragen auf nach dem Motto: "Wo sollen sie sonst hingehen? Aber das können sie ja nicht. Dann müssen sie ja die vertraglich vereinbarten 3-5 Tausend Dollar zurückzahlen, die sie erhalten haben. Und sein Vater hat ihn gezwungen. Sie sind nicht alle schlecht." Und die Krönung dieser Liste: "Lieber soll es so welche netten geben, die dir einmal mehr kochendes Wasser geben oder dich zum Duschen bringen, als die bösen." An diesem Punkt fängt es mich an zu rütteln. Wie verdammt einfach es ist, sich eure Akzeptanz und euer Verständnis zu verdienen, wie wenig euch beigebracht wurde, wütend zu sein, wie unbegrenzt (ohne Grenzen!) nett ihr seid.

Eine Frau hat sich diese Strategie ausgedacht: Je mehr Danke und Bitte sie sagt, je ordentlicher sie ihr Bett macht, je sauberer sie ihren Teller wäscht und je schneller sie fertig isst, desto besser werden die Bullen über sie denken. "Wir sind höflich zu ihnen und sie werden sehen, was für brave Mädchen wir sind." Das erste, was sie fragte, als sie in unsere Zelle kam, war, was unsere Regeln sind. "Werden die Decken an den Ecken gefaltet?"
© Nadya Sayapina. Sleep, 13.09.2020




Kommunikation

Eben sie ermöglicht zu überleben und kostet gleichzeitig viel Energie. Die Rechtfertigungen des Aggressors, Sexismus, homofeindliche Gags, übermäßig-überflüssiges Labern, narzisstische Ausbrüche usw. Mein Gehirn nimmt das alles auf, aber anders als im normalen Leben ist die Auswahl an Reaktionen hier stark eingeschränkt. Ich kann, zum Beispiel, platt gesagt, nicht aufstehen und rausgehen :) Eine freundliche Atmosphäre zu bewahren ist hier wichtiger, deshalb halte ich einige Punkte für mich fest und halte meinen Mund. Ich werde mich draußen damit beschäftigen. Aber vorerst muss ich überleben.

Aber ich bin hier nicht immer still wie ein Fisch. Manchmal regt es sich so sehr in mir, dass ich mich nicht zurückhalten kann, nicht zurückhalten will. Zum Beispiel als gestern eine Person den Bullen mit "Entschuldigung" ansprach und ihre Bitte war, anscheinend, ihre Hormontabletten zurückzugeben. Oder bei einer Frage nach der Uhrzeit. Aah! Du bist im Gefängnis, warum entschuldigst du dich? Ich werde mich nicht zu viel bedanken (obwohl es manchmal herausrutscht, oje). Ich verstehe, dass dies auch eine gewisse Entmenschlichung und Herabwürdigung ist, wenn ich u.a. den Begriff "Bulle" verwende, aber scheiß auf sie. Es wird Menschen um mich herum geben, die ihnen Verständnis entgegenbringen, sie trösten, Mitleid mit ihnen haben.




Verlegung

Neue Zelle. Sieht so aus, als würde ich die letzten 5 Tage meiner Haftstrafe hier verbringen. Es sei denn, sie geben mir mehr Haftzeit drauf - eine neue Phobie, die ich jetzt habe. Was ist der Unterschied:

● Menschen (hier sind es 10, was mehr Kommunikation bedeutet) (Anm., die letzten Tage habe ich mit nur einer Frau abgesessen)

● Gemütlichkeit (hier fluktuieren die Leute, neue kommen anstelle der alten und bekommen "geerbte" Bücher, Lebensmittel, Becher usw. Meine vorherige Zelle war leer, wir haben erst angefangen, sie mit etwas zu füllen. Außerdem gibt es hier zwei Fenster, sie sortieren den Müll, reinigen die Toilette mit einer Zahnbürste und singen Schlaflieder vor dem Schlafen) (Anm., später habe ich auch angefangen zu singen).

● Die Bullen sind hier weniger hart. Das kann ich im Vergleich schon sagen. Hier kann man ohne Probleme morgens nach dem Frühstück ausschlafen (wenn man bedenkt, dass um 6 Uhr aufgestanden wird, ist das eine super Sache). Gerade steht ein Schild mit der Aufschrift "Dusche" drauf, das auf der Videokamera und beim Blick durch das Guckloch zu sehen ist. (Anm., dieses Schlaraffenleben dauerte nicht lange. Nach ein paar Tagen wurde uns verboten, auf Matratzen zu liegen und zu sitzen, tagsüber mussten wir sie zusammenrollen, wir fingen an, mit eingeschaltetem Licht zu schlafen und gingen nicht mehr spazieren).

Alle "Meinen" kommen langsam heraus. Gestern war ich zum ersten Mal allein in der Zelle mit den "neuen" Frauen. In ein paar Tagen werde ich wieder mit einer komplett neuen Konstellation sein. Doch es entstehen Bindungen, Gewohnheiten, Sympathien.

Ich streiche heute Nachmittag 10 Tage weg. Das sind 2/3 meiner Haftstrafe. Sie soll schnell rum sein.

Mist, wie sie mich weiterhin aufregt! Sie bringen uns zur Dusche:
- Soll ich die Hände hinter dem Rücken halten?
Ja, verfickt, hinter deinem Rücken. Und dann darfst du dir einen Lutscher aus der Bonbondose nehmen. Oder auch hier:
- Aufgepasst, Mädels, ihr müsst die Becher verkehrt herum reichen.
- Warum?
- Es ist bequemer, so fallen sie nicht auseinander.
Oh shit, sollen sie doch auseinanderfallen und 3 km weit weg fliegen, verdammt! Wie mich das aufregt!

Nun ist sie weggefahren, die mich in den Wahnsinn treibt. Ich werde ihr keine Träne nachweinen. Und ich denke immer wieder an den Zettel, der mir weggenommen wurde, über das Gefängnissystem, Unterwerfung und Bestrafung, etc.

© Nadya Sayapina. Day reading, 21.09.20


Meine Verlegung in diese Zelle ist eine Art Geschenk des Himmels. Hier herrscht eine ganz andere Atmosphäre innerhalb des Kollektivs. Die Mädchen haben die Bullen draußen "erzogen": sie brachten ihnen bei, "guten Morgen" und "gute Nacht" zu sagen. Tagsüber sind sie ruhig am Schlafen. Sie rauchen leise in den Abzug. Sie füttern andere Häftlinge, "Balander" (Anm.d.Ü., Häftlinge, die an der Essensausgabe arbeiten) mit verschiedenen Leckereien: sie legen sie in saubere Teller und Tassen, die sie nach dem Essen zurückgeben.

Sie haben noch von anderen Geschichten von Widerstand erzählt: zum Beispiel als sie absichtlich laut gelacht haben, als sie neue Jungs hereingebracht haben, damit diese verstehen, dass es hier ok ist, dass man es aushält, und dass das ganze Geschrei nur eine Täuschung ist. Oder sie hingen wrw (Anm.d.Ü., бчб belarus., weiße, rote und dann wieder weiße) Handtücher an den Heizkörper. Oder sangen laut Lieder, wie "Mury", "Krieger des Lichts" (Anm.d.Ü., Lied der Rockband "Lyapis Trubetskoy") usw.

Wir überlegten, warum es einen solchen Unterschied im Verhalten der Bullen in der 2. und hier in der 1. Etage gibt. Wir einigten uns darauf, dass es eine Frage des Alters ist. 20-jährige Rotznasen wollen sich in jeder Situation und unter allen Umständen durchsetzen. Die Älteren erkennen, dass es nicht notwendig ist, sich vor einer 18-jährigen jungen Frau oder einer 50-jährigen Tante so dermaßen aufzuspielen.

Nun ist eine neue Frau reingekommen und hatte einen bedeutenden Einfluss auf die Gruppendynamik. Zuerst empfand ich Sympathie für sie. Nach dem Motto, sie ist eine ältere Frau, kranke Gelenke, aber dann hat sie mich geärgert und genervt. Belehrte mich, wertete mich ab, überschritt meine Grenzen, gab mir Ratschläge. Pfff, das war wirklich schwer! Und es gibt kein Entrinnen. Wir werden hier alle festgehalten. Wir sind gezwungenermaßen "nahe". Es ist gut, dass sie nicht länger als zwei Tage bei uns geblieben ist. Beim Abschied habe ich sie dennoch umarmt, wie auch all die anderen. Sie lächelte. Wir werden uns sowieso nie wiedersehen.

Zeit, vergehe schneller! Das Buch "Die Dornenvögel" hilft mir dabei. Colleen McCullough (eine sehr unterhaltsame Geschichte) und japanische Kreuzworträtsel. Es ist diese Art von Zeichnen nach Zahlen, bei der am Ende ein Bild entsteht. Bei mir ist noch nichts Vernünftiges herausgekommen, aber es fasziniert mich und nimmt viel Zeit in Anspruch. Es ist hier lebenswichtig, sich für etwas zu begeistern.

Wir dürfen tagsüber nicht schlafen oder auf dem Bett liegen. Wir sind gezwungen auf einer harten, schmalen Bank am Tisch zu sitzen. Wir schlafen nachts mit grellem (Tages-) Licht. Dann noch Menstruation.

Ich bin schon ganz begierig darauf rauszukommen. Ich kann es nicht erwarten. Wieder einmal war ich die "Älteste" in der Zelle. Alle "Meinen" (alle, die schon zu "meinen" geworden sind) sind rausgekommen. Ich habe ein bisschen was über X erfahren. Unter den Wächtern wird über ihn getratscht. Sie nennen ihn einen Transvestiten. Er scheint auch 15 Tage bekommen zu haben und befindet sich in Einzelhaft. Ja, weil sie nicht wussten, ob sie ihn zu Männern oder Frauen stecken sollten. Ich stelle mir vor, wie es dort für ihn ist - und mein Aufenthalt hier sieht nicht mehr so tragisch aus.

Druck in meinen Schläfen. Ich war seit fünf Tagen nicht mehr an der frischen Luft.

Ich habe drei Briefe geschickt und einen zurückbekommen. Von meiner Mutter. Sie hat kaum Worte auf zwei Drittel einer Seite zusammengekratzt, aber ich nehme sie dankbar an. Es ist das, was sie geben kann. Ich hoffe, sie macht sich da nicht zu viele Sorgen um mich. Wie Nasta, die mir Pakete schickt. Und das gilt auch für Milana. (Anm., Mutters Brief ist der einzige, den ich während der gesamten Haft erhalten habe).

Oh, ich wünschte, ich könnte diese Erfahrung hinter mir lassen und aus der Distanz reflektieren.

Tag 15, der letzte. Es kotzt mich an mir etwas Unterhaltsames suchen zu müssen, pure Kohlenhydrate zu essen, im Licht zu schlafen, morgens um sechs Uhr aufzuwachen, AN DER BANK ZU SITZEN. Meine arme Wirbelsäule, mein armer Körper, mein armes Gehirn. Wenn ich rauskomme, werde ich euch ganz doll liebhaben.


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P.S. In der Zelle habe ich mir oft vorgestellt, dass alles was passiert, ein Quest, ein Spiel ist. Ich habe eine Kopie des Protokolls erhalten, ich habe mich nicht schuldig bekannt, ich bin nicht zu den "Befragungen" gegangen, ich habe meine Fingerabdrücke nicht abgegeben, mein Telefon ist nicht in falsche Hände geraten... Aber, verdammt, ich habe meine Tattoos fotografieren lassen und habe das Geld auf dem Weg nach draußen nicht sorgfältig gezählt. Die Gefängniswärter haben mir 10 Rubel gestohlen. Ich habe es nicht dokumentiert - ich war zu aufgeregt rauszukommen. Glaubt mir einfach beim Wort :)

Ich habe mir auch nicht erlaubt, meine Freiheit in vollen Zügen zu genießen, weil ich wusste, dass sie mich nach 15 Tagen für weitere 15 holen könnten. Und dann für weitere und weitere. Ich dachte darüber nach, wie ich meinen Freundinnen möglichst diskret sagen könnte, dass wir am besten so schnell wie möglich vom Tor weggehen sollten, damit sie mir nicht noch eine Vorladung in die Hände drücken. Und ich dachte darüber nach, dass meine Freundinnen nicht denken sollten, dass ich in der Zelle völlig abgedreht bin.

Ich habe diesen Quest bestanden. Ich bin eine Überlebende.


Zeichnungen: Nadya Sayapina